

Vergangenes Wochenende war Frühlingsfest in Tarariras. Es war eine großartige Veranstaltung mit Jahrmarkt, Fahrgeschäften und einer großen Bühne, auf der verschiedene Bands aufgetreten sind. Am Sonntagnachmittag gab es sogar einen großen Umzug mit bunten Motivwagen. Aufgrund des schönen Wetters an allen drei Tagen schlängelten sich tausende Besucher über den Veranstaltungsplatz mitten im Zentrum.
Wie hier üblich, gab es zwischen den vielen Imbiss-Ständen keine Sitzgelegenheiten. Jeder brachte den obligatorischen Klappstuhl mit, über dessen Nutzung ich ja schon an anderer Stelle ausführlich berichtet habe. Auf dem Land gehört der Klappstuhl zur Grundausstattung eines jeden Uruguayo. Wer Nachschub braucht, weil der alte verschlissen ist, kann sich gleich vor Ort einen neuen Klappstuhl kaufen. Es ist immer auch ein Verkaufsstand vorhanden, an dem man die bunte und praktische Ausrüstung erstehen kann.
Am Sonntagabend gab eine vierköpfige Band ein fetziges Konzert. Über zwei große Leinwände konnte man die Akteure auch von etwas weiter entfernt gut beobachten. Der große Platz vor der Bühne war voll. Dicht an dicht saßen mehrere hundert Zuschauer auf ihren Klappstühlen, schön ordentlich aufgereiht, lauschten der Musik und nuckelten an ihrem Mate-Tee. Die Männer auf der Bühne gaben ihr bestes. Sie motivierten die Zuschauer zum Mitmachen, hüpften, klatschten. Alles vergeblich ! Der Uruguayo genießt und schweigt ! Die einzige Bewegung waren die bunten Disco-Lichter, die wild zuckend den Nachthimmel beleuchteten. Nach dem letzten Song packte die Band ihre Instrumente wieder ein. Nicht einmal jetzt bekamen die vier Männer einen Applaus für ihre Leistung. Kein rhythmisches Klatschen während der Vorführung, kein Applaus zum Schluß. Nichts. Man muß als Musiker schon sehr hart gesotten sein, um so eine Nichtbeachtung zu ertragen. Obwohl sich die ganze Gesellschaft bestimmt prächtig amüsiert hat !
Die neue Woche startete mit hochsommerlichen Temperaturen, die am Mittwoch Nachmittag 34 Grad erreichten. Gegen Abend sollte es Gewitter geben. Den ganzen Tag über brannte die Sonne vom stahlblauen Himmel, ein heißer Wind fegte über das Land. Wolken, die vielleicht eine Wetteränderung ankündigten, waren nicht zu sehen. Um 16 Uhr färbte sich dann der südliche Horizont von hellblau langsam in ein immer dunkler werdendes grau, ohne daß dabei Wolken sichtbar wurden. Die dunkelgraue Wand schob sich immer näher heran, Blitze zuckten, Donner grollten. Wenn uns das trifft, dann gute Nacht, waren unsere Gedanken und ich beeilte mich, die Tiere von der Weide zu holen. Kurz bevor das letzte Tier auf der Nachtweide war, brach das Unwetter los. Ich schaffte es, total durchnässt, gerade noch in den Galpon, bevor große Hagelkörner, von Windböen gepeitscht, den Aufenthalt draußen gefährlich werden ließen. Die Ziegen verschwanden flugs in ihrem Haus, die erschrockenen Schafe standen dicht gedrängt mit hängendem Kopf beisammen und warteten auf ein Ende des Hagelangriffs. Ich stand mit Steffen unter dem Wellblechdach. Der unglaubliche Lärm war kaum zu ertragen.
Nach 10 Minuten war der Spuk vorbei. Wir bekamen glücklicherweise nur den Rand des Unwetters ab. Einige Pflanzen hat es total zermatscht, bei den meisten fehlt nun ein Großteil der Blätter. Der Boden war übersät von Laub und kleinen Ästen.
Während unseres Erkundungsganges durch den Park, um die Schäden zu begutachten, hörten wir wildes Rufen von der Straße her. Die nächste Gewitterfront war im Anmarsch, der Wind heulte. Hinter dem Gatter stand ein wild gestikulierender kleiner Mann. Seine Worte hörten wir erst, als wir direkt vor ihm standen, verstanden haben wir ihn erst nicht. Er redete wie ein Wasserfall, die gelockten schwarzen Haare standen nach allen Seiten, es war eine groteske Situation. Er ist Brennholzsammler und wurde vom Unwetter überrascht. Der Akku seines Handy‘s war leer, er wohnt in Tarariras und wollte dort jemanden anrufen, der ihn abholt. Wir baten ihn ins Haus. Dort konnte er sein Handy ans Stromnetz anschließen und telefonieren. Sein Freund, den er erreichte, teilte ihm mit, daß sein Auto kaputt ist. Der kleine dunkle Mann, er heißt Anderson, zuckte mit den Schultern und wollte sich mit seinen Habseligkeiten, die in einem Schubkarren verstaut waren, zu Fuß auf den Weg machen. Das konnten wir nicht zulassen. Rundherum ballten sich nun dunkle Wolkenformationen, es blitzte und donnerte, und bis nach Tarariras sind es 21 Kilometer !
Wir verluden seinen Schubkarren auf unseren Pick-Up und er lies sich, nach anfänglichen Protesten, dann doch gerne nach Hause fahren.
Anderson ist Brennholzsammler und mit seinem Schubkarren oft tagelang im Wald unterwegs. Mit Erlaubnis der Besitzer fällt er Bäume, säubert Campos und lebt von dem verkauften Holz ein armseliges Leben. Aufgrund der großen Entfernungen übernachtet er in seinem „Schlafsack“ vor Ort. Das, was er braucht, Motorsäge, Benzinkanister, Wasserkanister, Schlafsack, das alles liegt im Schubkarren. Wir waren beeindruckt und beschämt. Seine Geschichte erinnert an die vom Märchen „Hänsel und Gretel“.
Es gibt hier viele Menschen wie Anderson, bitterarm fristen sie ihr Dasein und leben von der Hand in den Mund, und wissen heute nicht, ob sie morgen genug zum Essen haben. Anderson hat eine Familie in Tarariras, die er versorgen muss, Mutter, Frau und Kind. Wir haben uns gut unterhalten auf dem Weg nach Tarariras. Er erzählte uns sein Leben, ohne Bitterkeit oder Selbstmitleid. Er kommt aus der noch ärmeren Gegend im Norden. Hier geht es ihm gut, er hat Arbeit, erzählt er uns fröhlich. Wir haben ihm angeboten, er darf auch bei uns Holz schlagen, und er hat freudig angenommen.
Auch heute, während ich das schreibe, geht mir seine Geschichte nicht aus dem Kopf. Er wäre gestern Abend nach Tarariras gelaufen. 21 Kilometer, bei Sturm, Regen und Gewitter. Ohne Lampe, mit nichts als seinem Schubkarren.
Und unsereins ärgert sich, wenn der Handwerker nicht pünktlich kommt, die Papageien die Erdbeeren fressen oder sich irgendeine bürokratische Angelegenheit in die Länge zieht !
Apropos: wir haben seit Dienstag unseren Ausweis, auf dem ist der dauerhafte, legale Aufenthalt in Uruguay vermerkt. Wir haben es geschafft. Wir haben alle Vorraussetzungen erfüllt. Wir dürfen bleiben 😊
Nachtag: Steffen ist gerade nach Hause gekommen. Er war auf dem Acker, die Aussaat kontrollieren und hat sich unterwegs mit dem Mechaniker unterhalten. Wir haben Glück gehabt. Einige andere leider nicht. Der gestrige Hagelsturm hat viel Unheil angerichtet. Autos sind total kaputt und auch die Saaten vieler Bauern sind total zerstört. Da hier kaum einer versichert ist, wird der Ernteausfall wieder viele Familien ins Chaos stürzen.